Montag, 4. Oktober 2010

Eine gute Nachtgeschichte für schlechte Abende


Es begab sich zu einer Zeit, in der sich düsterer, schwerer Nebel über das vor wenigen Wochen noch so sonnige Tal legte und auf einmal eine steife Brise allgegenwärtig war. Die Natur zeigte sich in all ihrer Unwirtlichkeit und ließ bereits erahnen, dass sie auch in diesem Jahr keine Anstalten machte, es dem Leben ringsum von nun an einfach zu machen.
Paradoxerweise entschied sich gerade zu diesem Zeitpunkt, der dem Leben länger währende Feindschaft in Aussicht stellte, eine kleine Raupe den Äther der Lebendigkeit in ihre noch schwachen Lungen einzusaugen. Man hätte es sich bestimmt auch leichter machen können – doch hatte die kleine Raupe von Anbeginn ihres Seins neben großer Kraft vor allem eines: Intuition. Ihre Intuition flüsterte ihr „Wer das Leid nicht kennt, wird auch die Freude nicht kennen lernen“ und befahl ihr deshalb, genau zum besagten Moment ihre ersten Zuckungen zu machen. Bereits diese Entscheidung ließ auf die außergewöhnliche Energie schließen, die dieses doch so winzige Lebewesen in sich tragen sollte.
Der Winter, der folgte, war kein einfacher und ja, es sollten noch viele schwierige folgen. Doch kam nach dem Winter stets der Frühling mit seinen duftenden Wiesen und bunten Blumen, sodass die strapazierten Lebensgeister der kleinen Raupe wieder neue Energie schöpfen konnten.
Aber eines jähen Jahres reichten selbst die schönsten und duftendsten Tage des Frühlings plötzlich nicht mehr: Sie vermochten die dunklen Flecken, die die letzten Winter ins Herz der Raupe trugen, nicht zur Gänze mit ihren Sonnenstrahlen zu erreichen. So kam es etwa zu der Zeit im Jahr, als die Pflanzen ihre Früchte trugen, dass selbst ein ausgesprochen schöner Frühling nicht mehr genügte, um den aus der Dunkelheit und Kälte vergorenen Sumpf in ihrem kleinen Herzen trockenzulegen. Sie verspürte auf einmal unangenehme Gefühle, die ihr bisher nur aus den Wintermonaten bekannt waren. Diese Masse in ihrem Herzen war zäh geworden. Es schien sogar, als ob nicht die Masse dem Herzen der kleinen Raupe anhaftete, sondern als ob sie ihren gesamten Körper umgab und vereinnahmte. Da bekam sie große Angst, da sie sich nicht mehr bewegen konnte.
Um nicht noch mehr der furchteinflößenden Masse an sich heran zu lassen, entschloss sich das filigrane Wesen, sich selbst mit einem robusten Mantel zu schützen, der es vollkommen umhüllte. Er nahm der Raupe einerseits die Angst, andererseits die Freiheit, aber keine weitere Kälte und keine weitere Dunkelheit konnten von nun an ihr Herz erreichen. Derart geschützt verbrachte sie den darauffolgenden Herbst, auch der Winter konnte ihr nichts anhaben. Gefangen, gelähmt vom eigenen Schutzschild sagte sie sich immer wieder: "Ich lebe. Ich lebe für die Hoffnung auf bessere Tage."
Eines Tages – oder eines Nachts, die kleine Raupe hatte den Unterschied verborgen hinter ihrem Panzer verlernt – spürte sie etwas, das sie schon lange nicht mehr gespürt hatte. Sie spürte zunächst ein kleines bisschen und dann immer mehr angenehme Wärme. Doch bald darauf wurde ihr so heiß, dass sie panische Angst bekam, in ihrem Panzer zu verglühen. Ohne sich der Konsequenzen bewusst zu sein, drückte die kleine Raupe so lange mit all ihrer Kraft gegen den Panzer, bis dieser von innen zerbarst. Erst jetzt kam ihr in den Sinn, was sie damit angerichtet haben könnte. Sie wollte sich entsetzt umblicken, doch wurden ihre an die Dunkelheit gewöhnten Augen von grellem Licht geblendet. Schnell bemerkte sie ernüchtert, dass ihre Beine noch in der bedrohlichen Masse feststeckten. Langsam nahm sie die wunderbare Umgebung rund um sich wahr: Es war Frühling geworden und es schien, als sei es der schönste, den es je gegeben hatte. Im ersten Moment ging ihr vor Freude das Herz über, aber als sie sich ihrer misslichen Situation bewusst wurde, war die Traurigkeit wieder zurück. Sie versuchte, sich mit ihren Händen zu befreien, aber das wollte ihr nicht gelingen, so angestrengt sie es auch versuchte.
Und wie ging die Geschichte weiter?
Man kann es sich schon denken: Jeder, der an dem kleinen, unscheinbaren Wesen, das im dunklen Sumpf feststeckt, vorbeigeht, würde bemerken, dass das Wesen nunmehr weder klein noch unscheinbar ist. Wenn man ihm begegnet, würde man dem so verzweifelt wirkenden Tierchen laut zurufen: „Wunderschöner Schmetterling, freu dich, es ist Frühling! Warum benutzt du nicht deine kräftigen, bunten Flügel?“ Und der Schmetterling würde seine Flügel benutzen.
Und wenn keiner vorbeikommt, wird es noch ein wenig dauern. Aber eines Tages wird sich der traurige Schmetterling ganz von allein seiner kräftigen, bunten Flügel bewusst werden, empor steigen, über die duftenden, blühenden Wiesen flattern. Und dann wird seine Seele tanzen!